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Programm

Eine Kritische Lebenskunst wird besonders in Zeiten virulent, in denen sich das Leben immer weniger von selbst versteht und in denen Traditionen, Konventionen und Normen an Überzeugungskraft verlieren und die Individuen sich daher bewusst um sich selbst zu sorgen beginnen. Lebenskunst hat im Kern ein praktisches Ziel, geht es ihr doch um eine ars vivendi, die auch und gerade auf den Alltag der Menschen zielt. Und dieser Alltag soll letztlich zu einem gelungenen Leben führen. Dabei braucht die Lebenskunst dezidiert kritische Einsätze, die verdeutlichen, warum und worin Menschen versagen und scheitern, und wie sie ihr Leben – je nach Umständen – anders und besser gestalten können.

Diese kritischen Einsätze betreffen zunächst den Umfang und die Zugänglichkeit zur Lebenskunst selbst. Zwar ist die Frage nach der Lebenskunst aktueller denn je, doch die Popularität ihres Diskurses, den mittlerweile ein breites und nicht nur wissenschaftliches Publikum verfolgt, sollte nicht verkennen, dass die Lebenskunst häufig einen elitären Unterton hat. Diese Schräglage hat historische und disziplinäre Hintergründe, denn die Debatte um die Praxis eines gelungenen Lebens reicht bis in die Antike zurück und ist im Kern eine philosophische Debatte. Diese historische Kontinuität verkennt wiederum, dass nicht nur Philosophinnen und Philosophen Lebenskunst analysieren, reflektieren und praktizieren können, sondern dass Lebenskunst ein alltägliches Thema darstellt, das Männer und Frauen gleichermaßen umtreibt. Denn wenn alle Menschen nach Glück streben – wie schon Aristoteles vor 2500 Jahren vermerkt –, dann kann auch unterstellt werden, dass alle Menschen sich – bewusst oder unbewusst – Gedanken darüber gemacht haben, was ihnen im Leben wichtig ist, was sie antreibt und auf welche Lebensziele sie bezogen sind und auch, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Damit soll nicht die These vertreten werden, dass alle Menschen Lebenskünstler wären, sondern nur, dass alle Menschen in ihrem Alltag Aspekte ihrer Lebenskunst in der einen oder anderen Form integriert haben. Lebenskunst ausschließlich im philosophischen Sinn mit (umfassender) Begabung, Bildung, Ressourcen, Reflexivität, Geschmack und Selbstdisziplin zu assoziieren, d.h. mit Eigenschaften, die nicht jedem Mitglied einer Gesellschaft ,einfach so‘ zur Verfügung stehen, greift jedenfalls zu kurz. Zwar lässt sich konstatieren, dass ein theoretisches und praktisches philosophisches Wissen durchaus von Belang ist, sie aber der Ergänzung etwa durch psychologisches, medizinisches, soziologisches, pädagogischen, alltäglichen etc. Wissen bedarf.

So ist also kritisch zu vermerken, dass in der Debatte um die Lebenskunst bis heute immer auch ein aristokratisch-elitärer und ideologisierender Unterton mitschwingt. Diese Perspektive bringt die Form des gelungenen Lebens in einen Zusammenhang mit Reflexivität und Pragmatik, mit Kultiviertheit und Ästhetik, mit Selbst- und Fremdbeherrschung und auch mit Kreativität und Originalität. Damit wird das Leben zu einem besonderen – häufig sich auch von anderen Lebensformen unterscheidenden Leben. Und es sind in dieser Perspektive dann nur wenige Einzelne, wahrhaft originelle Denker und Praktiker, die ,wirklich‘ in der Lage sind, Lebenskunst zu praktizieren. Diese Wenigen erkennt man vor allem an der (systematischen) Rationalität, der (konsequent gelebten) Praxis, der (leiblichen) Intensität und dem (ästhetischen) Stil, mit dem sie ihr Leben in Form bringen.

Dass in der modernen Lebenskunst die Kunst – und hiermit ist nicht die antike oder mittelalterliche Regelkunst, sondern die neuzeitliche kreative und experimentelle Kunst gemeint – für das Leben eine entscheidende Rolle spielt, ist ebenfalls kein Zufall: Nicht nur, dass die Künste in der Moderne ein anderesSehen und Denken ermöglichen und damit andere Sensibilitäten und Erkenntnismöglichkeiten entwickeln, experimentieren sie auch mit anderen Formen des technischen Herstellens und des praktischen Handelns. Und schließlich sind sie auch nicht in eine Begründungslogik eingespannt, die neue Lebensperspektiven gegenüber älteren Perspektiven legitimieren muss. Dass sich, wie Nietzsche postuliert, das Leben letztlich nur ästhetisch rechtfertigen lässt, heißt auch, dass es sich gegenüber anderen Perspektiven nicht rechtfertigen muss und insofern einem individuellen Projekt verpflichtet bleiben kann. Das ist in der modernen Situation einer radikalen Kontingenz der Begründungsformen selbstredend hoch attraktiv, in der jeder Begründungsversuch letztlich ein Versuch, d.h. eine Option unter vielen anderen, bleiben muss. Das ist aber auch deshalb attraktiv, weil die Kritik der Lebenskunst somit einen radikal individuellen, idiosynkratischen Rest beibehält.

Statt eines strikt elitären philosophischen oder auch künstlerischen Lebensmodells brauchen wir das Lebenskunstkonzept des ,gewöhnlichen‘, des ,alltäglichen‘, des ,problematischen‘ oder auch des ,prekären‘ Lebens, das Menschen nicht nur dazu verhilft, mit ihrem Alltag und seinen Banalitäten, sondern auch mit ihren Körpern und ihrer Leiblichkeit, mit Zufall, Schicksal und Endlichkeit, mit Kontingenz, Unfall, Abhängigkeit und Unveränderlichkeit sowie mit Krankheit, Krise und Entfremdung auf gute und gelungene Weise fertig zu werden. Und wir brauchen eine Lebenskunst, die die anderen Menschen mit in den Blick nimmt. Denn seit der Antike wird in den einschlägigen Debatten richtigerweise darauf Wert gelegt, dass nicht nur Philosophinnen und Philosophen für ihre Lebenskunst der Belehrung, Beratung und Therapie bedürfen, um imstande zu sein, ihrem Leben eine besondere Form des Lebens zu geben. Lebenskunst verdankt sich immer auch dem anderen, an dem wir sie lernen; und wir brauchen diesen anderen auch, wenn wir uns von seiner Perspektive der Lebenskunst unterscheiden wollen. Doch häufig brauchen wir ihn – und hier müssen wir nicht an den Philosophen, die Beraterin oder den Therapeuten denken, sondern auch an die Eltern, die Freunde oder Vorbilder – wenn wir Informationen und Erfahrungen, Hinweise und Ratschläge oder auch Unterstützung und Hilfe benötigen. Und wir brauchen den anderen noch in einer zweiten Hinsicht, nämlich als denjenigen, mit dem wir – auch gemeinsam – Formen einer geteilten (etwa solidarischen oder gerechten) Form der Lebenskunst entwickeln. Lebenskunst braucht also den anderen, um sie zu lernen und einzuüben und auch, um sie in unterschiedlichen Beziehungsformen auszugestalten und weiterzuentwickeln.

Dabei werden immer wieder Schwierigkeiten und Probleme auftauchen, die einer alltäglichen Lebenskunst im Wege stehen – individuelle, soziale, kulturelle oder auch psychologische, religiöse oder gesundheitliche Schwierigkeiten, nur um diese zu benennen. Hier setzt eine Kritische Lebenskunst an: Sie hilft bei der Erklärung und Analyse dieser Schwierigkeiten und Probleme, sie erörtert Praktiken und Prozesse, um mit ihnen umzugehen und sie entwirft Modelle eines gelingenden Lebens zur Veranschaulichung und Orientierung. Daher lässt sich auch die These begründen, dass jede Lebenskunst nicht nur auf bestimmte Krisenanlässe bezogen ist, sondern auch bestimmte Formen der Kritik entwickelt hat.

Die dabei eingenommenen kritischen Perspektiven sind so vielfältig wie die Fragen des Lebens selbst:

  • Sie können sich auf Praktiken, Rituale, Formen und Gestaltungen beziehen, durch die Menschen einen „gelingenden“ Alltag bzw. eine bejahenswerte Existenz herstellen wollen – und in denen sie regelmäßig scheitern.
  • Sie können sich auf sinnlich-leibliche Zusammenhänge oder auf vielfältige Erfahrungen konzentrieren, in denen sich Menschen als ohnmächtig oder als (extrem) abhängig erleben.
  • Sie können sich auf politische, pädagogische oder therapeutische Verhaltensmuster beziehen, in denen unangemessene Formen der Lebenskunst ihren Ausdruck finden.
  • Sie können sich sozial- und kulturkritisch äußern, indem sie soziale Ungleichheiten, politische Dominanzverhältnisse oder kapitalistische Steigerungslogiken in Frage stellen.
  • Sie können sich auf philosophische oder sozialwissenschaftliche Theorien und Modelle und ihre Rationalitäten und Ideologien beziehen, die sich aus Sicht der Lebenskunst als elitär, unangemessen und/oder nicht sinnvoll darstellen.

Jedes Leben hat schon eine Gestalt oder eine Form, die die Einzelnen durch ihr Leben „trägt“; es hat eine Struktur, die sich einer Strukturierung verdankt, die von unterschiedlichen Akteuren geprägt ist – vom Subjekt selbst, aber auch von seinen sozialen Beziehungen, von der Wirtschaft, der Kultur oder auch von den Medien. Die Fragen sind nur: Trägt diese Struktur noch? Sind die psychischen, sozialen, politischen Kosten für diese Struktur zu hoch? Gibt es Benachteiligungen und Diskriminierungen in der Möglichkeit der Ausgestaltung von Lebenskunst? Können wir unser Leben besser gestalten? Und was meint diese „Verbesserung“ bzw. welche Folgekosten sind wiederum mit ihr verbunden?

Eine Kritische Lebenskunst nimmt in der jeweiligen historisch-kulturellen Situation in den Blick, was es schwierig, wenn nicht unmöglich macht, ein gelungenes Leben zu führen, d.h. sie analysiert die jeweils individuellen, sozialen oder kulturellen Bedingungen eines Nichtgelingens bzw. Nichtgelingenkönnens des Lebens und sie entwickelt aus individuellen, sozialen und kulturellen Unmöglichkeiten und Schwierigkeiten, Krisen und Enttäuschungen Orientierungsmuster für ein Leben, das als ,gelungen‘ bezeichnet werden kann. Man könnte sagen, die kritische Lebenskunst erinnert daran, was noch ,aussteht’, was noch ‚fehlt‘, was versprochen, aber nicht eingehalten wurde. Dabei gewinnt sie ihre Maßstäbe des Gelingens nicht an überzeitlichen (transzendentalen) Gegebenheiten, sondern an den impliziten, in den jeweiligen Situationen und mit den jeweiligen Individuen selbst mitgesetzten (konstitutiven) Perspektiven und Wünschen.

Für die Kritische Lebenskunst ist daher ein interdisziplinärer Ansatz zentral. Denn dieser eröffnet nicht nur unterschiedliche kritische Perspektiven auf die Lebenskunst. Er ist auch unumgänglich, wenn es darum geht, andere und neue Wege in der Lebenskunst zu beschreiten. Obwohl die Geschichte der Philosophie an der Theorie- und Modellbildung von Lebenskunst einen überragenden Anteil hat und obwohl auch den Künsten mit ihren Möglichkeiten in Wahrnehmung, Reflektion und Gestaltung für die Gegenwart wohl eine besondere Bedeutung zukommt, erscheint es grundlegend wichtig, Lebenskunstfragen, die das Leben in seiner Breite und seinen Höhen und Tiefen betreffen, auch an andere Disziplinen zu richten. Mit der Kritischen Lebenskunstsuchen wir den bisherigen philosophisch-psychologischen Verständnishorizont der Lebenskunst theoretisch wie praktisch zu erweitern und auszudifferenzieren, und hierbei neben der Philosophie vor allem die Sozial- und Kultur- sowie die therapeutischen Wissenschaften, d.h. die Humanwissenschaften zu befragen. Gerade auch der Blick auf die Krisenhaftigkeit menschlichen Daseins, die mit prekären Lebensverhältnissen einhergeht und die Sicht der Therapeutik, die Licht auf die psychischen Schattenseiten wirft, zeitigen neue und andere Einsichten in eine aktuelle Lebenskunst.

Die Reihe zur Kritischen Lebenskunst im Metzler-Verlag soll verschiedene Formate umfassen, die von Sammel- und Tagungsbänden über Monographien und Handbücher bis hin zu Qualifikationsarbeiten wie Dissertationen oder Habilitationen reichen. Dabei sollen sowohl einzelne Werke wie einzelne Autoren als auch Denkrichtungen und Themenfelder in den Mittelpunkt rücken. Die Beiträge für die Sammel- und Tagungsbände sollen unterschiedlich konzipiert werden, d.h. als lexikalische Überblicksartikel, als essayistische Einwürfe, als fokussierte Darstellungen von Einzelaspekten oder als längere Abhandlungen zu einem Autor oder Themenkomplex.

 

Bände in der Reihe https://link.springer.com/bookseries/16794